Ch. Wiefling: Die preußische Personalpolitik am Rheinischen Appellationsgerichtshof bis 1879

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Titel
Die preußische Personalpolitik am Rheinischen Appellationsgerichtshof bis 1879. Borussifizierung oder Rheinischer Sonderweg?


Autor(en)
Wiefling, Christian
Reihe
Rechtsgeschichtliche Schriften
Erschienen
Köln 2023: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Donata Zehner, Juristische Fakultät, Universität Passau

Das Aufeinandertreffen rheinischen und preußischen Rechts wurde bereits in zahlreichen Veröffentlichungen thematisiert.1 Auch die Bedeutung des Rheinischen Appellationsgerichtshofs in Köln fand schon Eingang in die Literatur.2

Wiefling hingegen ermöglicht einen neuen Blickwinkel auf den Rheinischen Appellationsgerichtshof. Er stellt drei Fragen ins Zentrum seiner Ausführungen: „1. War das Klima am Gericht eher preußisch oder rheinisch-französisch geprägt? 2. Nutzte das Justizministerium die Personalpolitik, um eine stärker altpreußisch ausgerichtete Rechtskultur zu fördern? 3. Erreichte die Besetzungspraxis von Richtern und den Beamten des Öffentlichen Ministeriums die gesteckten Ziele?“ (S. 19)3 Bereits in der Einleitung stellt Wiefling klar, dass bis zum Jahr 1838 der Fokus auf die Personalpolitik verschiedener Justizminister gelegt wird (S. 24). Der Darstellung der Zeit Karl Friedrich von Beymes (S. 98–214), Friedrich Leopold von Kircheisens (S. 214–240), Heinrich Wilhelm August Graf von Danckelmanns (S. 241–257) sowie von Karl Albert von Kamptz (S. 257–285) folgt eine Untersuchung der Verhältnisse am Appellationsgerichtshof ab dem Jahr 1838 (S. 285–311).4 Dass Wiefling seine auf die Justizminister bezogene Herangehensweise nach der Entlassung von Kamptz nicht fortsetzt, begründet er mit der Zäsur des Jahres 1838, da fortan der Umgang mit französischen Rechtsnormen und nicht mehr die Personalpolitik des Appellationsgerichtshofs im Zentrum der Aufmerksamkeit des Justizministeriums standen (S. 285, 302). Die drei eingangs aufgeworfenen Problemstellungen werden für jeden Zeitraum unter umfassender Auswertung u. a. von Archivalien des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz5 sowie von Archivalien des Landesarchivs NRW Abteilung Rheinland6 beantwortet, wobei sich Kurzzusammenfassungen ebenso wie den Kapiteln vorangestellte Gliederungsübersichten (beispielhaft S. 261) als gute Hilfestellungen für den Lesefluss erweisen. Die sehr systematische Herangehensweise der Darstellung der Personalpolitik der vier genannten Justizminister spiegelt sich auch im Aufbau der Kapitel wider: 1. Einleitung, 2. Persönlichkeit und rechtspolitische Ansichten, 3. Personalpolitik. Eine Abweichung stellt das vierte Kapitel der Ära Kamptz dar, das unter dem Titel „Bewertung der Personalpolitik unter Einbezug anderer Steuerungsmittel – Verstärkte Einflussnahme auf die Rechtsprechungstätigkeit“ (S. 281) keine bloße Zusammenfassung der anhand von archivalischen Quellen gewonnenen Erkenntnisse darstellt, sondern eine Mischung aus Übernahme von Wertungen der Sekundärliteratur (insbesondere S. 282) sowie zusätzlichen archivalisch belegten Aspekten, z.B. das Ziel der Zurückdrängung der französischen Rechtsordnung (S. 283, Fußnote 1519), und eine gewisse Asymmetrie bedingt.

Wiefling schließt anhand der Anzahl der besetzten Richterstellen, der anhängigen Verfahren sowie der Diskussion über die Einrichtung eines dritten Zivilsenats auf eine massive Arbeitsbelastung des Gerichts (S. 237, 239, 241). Wegen der Zielrichtung des „Personalabbaus“ unter Danckelmann (S. 250) erschienen Anfragen betreffend die Einführung eines dritten Zivilsenats sinnlos, die Diskussion an sich versiegte jedoch nicht (S. 254-255). Er wurde schließlich unter Kamptz eingeführt (S. 262). Des Weiteren zeichnet Wiefling die Entwicklungslinie von einer im Ergebnis ambivalenten Einstellung Kircheisens gegenüber dem rheinischen Recht (S. 218-219), einer Tendenz, preußisches Recht einzuführen unter Danckelmann (S. 243), dem Appellationsgerichtshof seine Zuständigkeit zu entziehen unter Kamptz (S. 283-284), hin zur Diskussion um eine Reform der preußischen Rechtsordnung unter Berücksichtigung rheinischer Rechtsinstitute nach 1838 (S. 285). Dies änderte nach Wieflings Forschungsergebnissen nichts daran, dass das Gericht auch unter Kamptz (S. 269–272, 320) seine „rheinische Eigenständigkeit“ behielt (S. 323). Den unterschiedlichen Positionen der verschiedenen Minister wird dadurch Rechnung getragen, dass trotz einer ähnlichen Einteilung im Rahmen der detaillierten Untergliederung Aspekte wie das Vertrauen der Bevölkerung und eine sehr politische Herangehensweise hervorgehoben werden (beispielsweise „Vertrauensargument“ S. 270; „Bespitzelung und Kontrolle“ S. 275).

Die Bedeutung der Person Beymes wird aus ihrer ausführlichen Darstellung ersichtlich. Allein dieser Abschnitt nimmt fast ein Drittel des Werkes ein und weist infolgedessen eine detailliertere Gliederung auf als die weiteren personenzentrierten Kapitel. Ein Abschnitt über die fachliche Qualifikation und Ausbildung der aus dem Rheinland stammenden Richter besticht einerseits durch die Auswertung von Primärquellen und Sekundärliteratur, stellt aber andererseits den Leser vor die Frage, warum bei einer Länge von 13 Seiten keine weitere Untergliederung erfolgt ist (S. 150–163).

Anhand der Besetzungspolitik am Appellationsgerichtshof gelingt es Wiefling, Gegensätze zwischen „Rheinländern“ und „Altpreußen“ herauszuarbeiten. Beispielhaft sei auf die Besonderheit des preußischen Rechts hingewiesen, wonach Dienstalter und beamtenrechtliche Beurteilungen entscheidend waren, während im Rheinland Kenntnisse im französischen Recht und Ausbildung karrierebegünstigende Kriterien darstellten (S. 121, 139, 150). Die Abgrenzung von „Rheinländern“ und „Altpreußen“ verfolgt Wiefling bis zur Ära Kamptz weiter (S. 269). Erst ab 1838 ließ sich eine bestimmte Besetzungspolitik das richterliche Personal betreffend nicht mehr feststellen (S. 285).

Kleinere Monita sind in den ersten beiden Kapiteln der Dissertation zu verzeichnen, die die Funktion haben, die Forschungsfrage zu erläutern (S. 23). Sie dienen als Unterstützung für ein Verständnis der archivalischen Auswertungen im Hauptteil. So wird bereits in diesem Zusammenhang mit der Kompetenzverteilung zwischen Justiz und Verwaltung ein den Gegensatz zwischen französischem und preußischem Rechtssystem veranschaulichender Aspekt dargestellt (S. 29, 39–41, 54). Auch das bestehende Vertrauen der Bevölkerung in eine rheinische Justiz auf französischer Grundlage wird bereits thematisiert (S. 35). Dieser Vorgriff auf einzelne, das Aufeinandertreffen von rheinischem und französischem Recht betreffende Aspekte stellt einerseits eine große Hilfestellung für das Gesamtverständnis des Werkes dar, andererseits sind damit kleinere Schwierigkeiten verbunden, die geeignet erscheinen, eine fachfremde Leserschaft zu verunsichern. So kommen Personen zu Wort, ohne zuvor eingeführt worden zu sein (S. 47 Landsberg, dessen Leistung nur aus S. 38, Fußnote 104 ableitbar ist; S. 34 Klein). In ähnlicher Weise werden zu Beginn des dritten Kapitels Wertungen aus der Sekundärliteratur übernommen, die über einen in der Einleitung (S. 23) beschriebenen bloßen Vergleichspunkt einer Dissertation zum Rheinischen Revisions- und Kassationshof in Berlin hinausgehen (beispielhaft S. 87–91), Einstellungen rheinischer Beamter bzw. Sachverhalte als bekannt vorausgesetzt (S. 31: Justizorganisationsdekret vom 17. Dezember 1811, S. 32, 99). Als Beispiel für letzteres mag folgende Aussage dienen, die Wiefling ohne weitere Erläuterungen tätigt: „Die rheinischen Justizbeamten waren sich – abgesehen von wenigen Ausnahmen – darin einig, dass im Rheinland keinesfalls die Patrimonialgerichtsbarkeit und der eximierte Gerichtsstand eingeführt werden sollten.“ (S. 88) Diese Ungenauigkeiten in den einleitenden Kapiteln können jedoch den positiven Eindruck vom Hauptteil des Werkes nicht mindern.

Besonders erwähnenswert erscheint die Tatsache, dass am Ende des Werks die zu Beginn zur Disposition gestellte Trias (1. Untersuchung der preußisch oder rheinisch-französischen Prägung des Gerichts, 2. Personalpolitik des Justizministeriums zum Zweck der Förderung einer stärker altpreußisch ausgerichteten Rechtskultur, 3. Zielerreichung durch Besetzungspraxis) zu einer Forschungsfrage („Blieb der Rheinische Appellationsgerichtshof ein rheinisches Gericht oder wurde er ein politisches Mittel zur Borussifizierung des neuen preußischen Gebietes?“ S. 313) zusammengefasst wird und chronologisch die für Wiefling entscheidenden Aspekte prägnant erläutert werden. Wiefling gelingt es, ausgehend von einer Situation des Aufeinandertreffens verschiedener Rechtsordnungen, durch eine sehr umfangreiche Recherche und Auswertung archivalischer Quellen, eine in der gegenwärtigen Forschungslandschaft bestehende Lücke anhand der Untersuchung der preußischen Personalpolitik am Rheinischen Appellationsgerichtshof zu schließen und einen wichtigen Beitrag zur Justizgeschichte des 19. Jahrhunderts zu leisten.

Anmerkungen:
1 Beispielhaft Hermann Conrad, Preußen und das französische Recht in den Rheinlanden, in: Josef Wolffram / Adolf Klein (Hrsg.), Recht und Rechtspflege in den Rheinlanden. FS zum 150jährigen Bestehen des Oberlandesgerichts Köln, Köln 1969, S. 78–112, bes. S. 85–98; Dieter Strauch, Das Französische Recht und die Rechtsentwicklung im Rheinland, in: Manfred Baldus u.a. (Hrsg.), Schriften zum Rheinischen Recht 1998-2008 von Dieter Strauch Aus Anlass seines 80. Geburtstages, Köln u.a. 2013, S. 148-180, bes. S. 151-180; zu prozessualen Folgen: Gudrun Seynsche, Der Revisionshof in Koblenz (1814–1819), in: Reiner Schulze (Hrsg.), Rheinisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte, Berlin 1998, S. 37–60; Gudrun Seynsche, Der Rheinische Revisions- und Kassationshof in Berlin (1819–1852). Ein rheinisches Gericht auf fremdem Boden, Berlin 2003.
2 Beispielhaft Max Bär, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz seit 1815, Bonn 1919, ND 1965, S. 381–415; Adolf Klein, Die rheinische Justiz und der rechtsstaatliche Gedanke in Deutschland, in: Wolffram / Klein (Hrsg.), Recht und Rechtspflege, S. 113–264, bes. S. 140–195; Hans-Peter Haferkamp / Margarete Gräfin von Schwerin (Hrsg.), Das Oberlandesgericht Köln zwischen dem Rheinland, Frankreich und Preußen. Festschrift zum 200-jährigen Bestehen (1819–2019), Wien u.a. 2019.
3 „Altpreußen“ meint in diesem Fall diejenigen Gebiete, die bereits vor dem Wiener Kongress 1814/1815 Teil der Hohenzollernmonarchie gewesen sind (vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 1, Leipzig 1905, S. 394).
4 Wiefling schafft damit ein Gegenstück zu Seynsche, Der Rheinische Revisions- und Kassationshof, S. 89–214.
5 Insbesondere Schriftverkehr, Protokolle und Urkunden betreffend die Organisation des für die Rheinprovinz zu errichtenden Appellationsgerichts GStA PK I. HA Rep. 84a Nr. 40670–40674, Akten des regelmäßigen Geschäftsverkehrs zwischen Ministerium und Monarch betreffend das Appellationsgericht, später Oberlandesgericht Köln GSTA PK I. HA Rep. 89 Nr. 17284, Justizbehörden und Personalangelegenheiten der Justizverwaltung in der Rheinprovinz GStA PK I. HA Rep. 89 Nr. 17266, sowie Personalberichte unterschiedlichster Persönlichkeiten, z. B. Beymes GStA PK HA I. Rep. 84 I Nr. 93, Sethes GSTA PK HA I. Rep. 84 I Nr. 132.
6 Insbesondere Protokolle, die Rückschlüsse auf die Organisation und Besetzungspolitik des Appellationsgerichtshofs Köln ermöglichen (LAV NRW, Gerichte Rep. 0011).

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